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Hakenkreuze über Chemnitz

30. Januar 1933: Adolf Hitler wird Reichskanzeler

das düsterste Kapitel deutscher Geschichte begann

Am 15. Juli 1933 entstand im Chemnitzer Polizeipräsidium ein „Gesamtbericht über Vorfälle in Chemnitz für die Zeit von April bis Mitte Juni 1933“. Dieser listete die 31 schwersten Fälle von brutaler Folterung und von Mord durch Chemnitzer SA- Einheiten auf. Es seien al- lerdings weit mehr Personen misshandelt worden. Diese jedoch würden ausnahmslos schweigen, „weil ihnen durch- weg gedroht worden ist, dass für jeden eine Kugel bestimmt sei, der über die erlittenen Misshandlungen Angaben mache.“ In die so genannten Stabswachen der SA, die sich im Hansahaus in der Königs- traße, dem Sitz der NSDAP, und in Gebäuden von Sport- plätzen einquartiert hatten, wurden Chemnitzer Einwoh- ner verschleppt, die sich aus irgendeinem Grund den Zorn der neuen Herren zugezogen hatten. Meist handelte es sich um Arbeiter, die den Ge- werkschaften sowie der SPD oder KPD angehörten. Opfer waren aber auch Juden und Tschechen. Zudem lässt der Polizeibericht keinen Zwei- fel daran, dass oft persön- liche Racheakte eine Rolle spielten Der Verfasser be- schreibt die Vorgänge in den SA-Wachen ausführlich: „Die verhafteten Personen werden dort zunächst einem Verhör unterzogen. Sobald der Ver- haftete nicht das sagt, was der vernehmende SA-Mann wissen will, wird er von einer Anzahl SA-Männern mit Gum- miknüppeln und sonstigen Gegenständen geschlagen. Diese Tortur wiederholt sich im Verlaufe der Vernehmung mehrere Male. Es sind Fälle zu verzeichnen, wo die Opfer angebunden, nackt ausgezo- gen und bis zur Bewusstlosig- keit geprügelt wurden. U. a. hat man sie mit glühenden Ei- sen in das Gesäß gestochen und die Nacht über in eine Art Kiste gesteckt, wo sie bis zum Morgen, wie eine Schlange zusammengerollt, ausharren mussten. In einzelnen Fällen hat man ihnen Büschel von Haaren abgeschnitten, die sie in den Mund stecken mus- sten. Die Misshandlungen sind teils derartig gewesen, dass fast kein Fleckchen hei- ler Haut am ganzen Körper mehr zu sehen war. Auch soll es vorgekommen sein, dass Pfeffer in die Wunden gestreut und hierauf die Wun- den mit Essig wieder ausge- waschen worden sind.“ Sie- ben der 31 Personen kamen zu Tode. Drei davon erlagen ihren Verletzungen durch die Folter. Vier wurden vorsätz- lich ermordet.

Den jüdischen Rechtsanwalt Arthur Weiner holten am 11. April SA-Leute aus seiner Wohnung. Er wur- de erschossen. Später fand man seine Leiche in Wie- derau. Die drei Arbeiter Max Haufe, Alfred Schubert und Georg Enderlein wurden am 8. Juni von SA-Leuten ver- schleppt und im Turnerheim an der Yorkstraße gefoltert. Ihre Leichen entdeckte man nach zwei Wochen in einem Teich bei Schneeberg. Die in dem Polizeibericht er- wähnten Ereignisse waren nur ein Teil der mörderischen Lawine, die nach dem 30. Januar 1933, dem Tag der Etablierung der national- sozialistisch /konservativen Regierung mit Hitler als Reichskanzler, durch Chem- nitz rollte. Am 18. Februar wurde der kommunistische Funktionär Anton Erhardt auf offener Straße erstochen, ei- nen Tag später das Reichs- bannermitglied Paul Franke. Nach dem Reichstagsbrand am 27. Februar kam es zu einer regelrechten Hetzjagd auf Funktionäre der SPD und der KPD. In dieser Atmo- sphäre fanden am 5. März Reichstagswahlen statt. Die beiden Parteien konnten kei- nen geordneten Wahlkampf führen. Viele ihrer Funktio- näre waren inhaftiert oder in die Illegalität getrieben, ihre Zeitungen verboten. Desto bemerkenswerter sind die Wahlergebnisse. Die demo- kratischen bürgerlichen Par- teien, die Deutsche Demo- kratische Partei (seit 1930 Staatspartei) und die Deut- sche Volkspartei, waren mar- ginalisiert. Die Deutschnatio- nale Volkspartei paktierte auf Reichsebene mit Hitler. Die Zentrumspartei erzielte im Reich immerhin elf Prozent der Stimmen. In Chemnitz fehlte ihr aber seit jeher eine solche Stärke, da die katho- lische Bevölkerungsbasis sehr schmal war. Aber auch hier bewahrten die Anhänger des Zentrums ihre Haltung. Die Partei legte sogar et- was zu, lag aber immer noch unter einem Prozent. So blieben in der Stadt nur die beiden Arbeiterparteien, die der NSDAP bei dieser Terror- wahl Paroli boten. Die SPD erzielte 57.148 Stimmen, die KPD 48.430. Das waren zu- sammen etwas mehr als die 103.498 der NSDAP. Freilich blieb dieser Wahlerfolg Ma- kulatur. Er sagt aber immer- hin aus, dass in Chemnitz die Masse der Arbeiter nicht be- reit war, der Hitlerpartei ihre Stimme zu geben, sondern ihrer Gesinnung treu blieb. Die Zeiten allerdings, als wie beim Kapp-Putsch im März 1920 Chemnitzer Arbeiter geschlossen dagegen auf- standen und die Weimarer Republik verteidigten, waren vorbei. Weltwirtschaftskrise, Massenarbeitslosigkeit und die damit einhergehende bit- tere Not lähmten die Arbei- terschaft. Ob sie in großem Maßstab hätte mobilisiert werden können, wenn sich ihre Parteien nicht in unend- lichen Streitigkeiten unter- einander erschöpft hätten, mag dahingestellt bleiben, ist aber eher unwahrscheinlich. Widerstand aus dem bürger- lichen Lager war gleich gar nicht zu verspüren. So nahm die Transformation der poli- tischen Verhältnisse in eine faschistische Diktatur ihren verhängnisvollen Lauf. In den Tagen nach der Wahl besetz- te die SA wichtige Gebäude in der Stadt, die Kreis- und die Amtshauptmannschaft, das Amts- und das Landge- richt, das Rathaus, das Ar- beitsamt und die Stadtbiblio- thek. Bei der Besetzung des Verlages der sozialdemokra- tischen „Volksstimme“ am 9 März durch einen SA-Trupp wurde der Stadtverordnete Georg Landgraf erschossen. Es begannen Entlassungs- aktionen gegen Persönlich- keiten, die „marxistischer“ Einstellung verdächtig wa- ren. Betroffen waren Kom- munisten, Sozialdemokraten und Demokraten. Viele wur- den durch SA oder Polizei verhaftet. Für Menschen, bei denen Judentum und An- gehörigkeit zu einer Arbei- terpartei zusammenfielen, ersannen die SA-Schergen besondere Demütigungen. So wurde der Arzt und sozial- demokratische Stadtverord- nete Kurt Glaser mit anderen zusammen wie Vieh durch die Stadt getrieben. An eine Bretterwand musste er in großen Buchstaben schrei ben „Jüdischer Hetzer Dr. med. Glaser“. Ähnlich erging es Personen, an denen SA- Angehörige ihren persön- lichen Rachedurst stillten. Der sozialdemokratische R e i c h s t a g s a b g e o r d n e t e Bernhard Kuhnt war 1918/19 führend an der Revolution in Wilhelmshaven beteiligt und kurzzeitig Präsident des Frei- staates Oldenburg gewesen. Von dort her rührte der Hass, den ihm Angehörige der SA- Einheit „Marinesturm Chem- nitz“ entgegenbrachten. Sie schleppten Kuhnt am 9. März auf einem Schinderkarren durch die Stadt, fotografie- rten dessen Demütigung und brachten vier Fotos als Post- karten in Umlauf.
Zum 10. März berief die NSDAP aus eigener Machtvollkommenheit eine Stadtverordnetenversammlung ein. Das war irregulär und ein eklatanter Rechtsbruch. Als Legitimation berief sich die Partei auf einen imaginären „Volkswillen“. Die Veranstaltung artete zur Parteiversammlung der NSDAP aus, denn nur ihre 20 Abgeordneten nahmen daran teil. Die 31 Vertreter der beiden Arbeiterparteien waren zum Teil inhaftiert. 

 

Die übrigen konnten sich nur bei Gefahr für Leib und Leben auf die Straße wagen. Aber auch die neun bürgerlichen Stadtverordneten nahmen an der Farce nicht teil, obwohl man fest mit der DNVP gerechnet hatte, deren Vertreter ja im Reich mit Hitler in einer Regierung saßen. Die Chemnitzer DNVP-Fraktion lehnte die Teilnahme ab, weil sie die Befugnis der Einladenden in Zweifel zog.In der Sitzung des auf ein Drittel begrenzten Stadtparlamentes herrschte eine siegestrunkene, hasserfüllte Atmosphäre. Der NSDAP-Kreisleiter Mutz schrie in den Saal: „Wo ist denn die Kommune, wo ist die SPD, wo sind die Antifaschisten. Sie sitzen zu Hause und zählen an den Fingern ab, wann die Stunde kommt, da auch sie in die überfüllten Gefängnisse hineingepfercht werden.“  Dann beschloss man, den kommunistischen und sozialdemokratischen Stadträten die Aufwandsentschädigung und die Straßenbahnfreikarten zu streichen sowie kein amtliches Material mehr zuzustellen. Man benannte Straßen um, u. a. den Karl-Marx-Platz in Schlageterplatz, den Theaterplatz in Hitlerplatz und die Bebelstraße in Wettiner Straße. Hitler und Hindenburg wurden zu Ehrenbürgern ernannt. Jüdische und kommunistische Lehrer sollten entlassen und die Volkshochschule geschlossen werden. Alle diese Entscheidungen waren rechtlich ungültig. Aber wie im Reichsmaßstab war auch in der Kommune Rechtsbruch ein wesentliches Element zur Errichtung der NS-Diktatur. Während der Terror wütete, verabschiedete das Regime in rascher Folge Gesetze. Sie dienten der Stabilisierung seiner Macht. Die Gesetze erweckten den Anschein der Legalität, sprachen aber der gültigen Reichsverfassung Hohn. Sächsische und Chemnitzer NSDAP-Instanzen eilten dabei immer wieder denen im Reich voraus. Beispielsweise erließ der so genannte Reichskommissar für Sachsen schon am 11. März eine Verordnung, die kommunistischen Lehrern die Ausübung ihres Dienstes untersagte.

Der bereits von offenen Widersachern „gesäuberte“ Rat der Stadt Chemnitz setzte am 20. März einen „Säuberungsausschuss“ ein, der alle Gegner der NSDAP in der Stadtverwaltung entlassen sollte. Erst mehr als zwei Wochen später wurde ein Reichsgesetz erlassen, das dieses Vorgehen sanktionierte, das „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“.  In dessen Gefolge wurden 819 städtische Angestellte und Beamte entlassen.  Dazu gehörten der Intendant der Städtischen Theaters Hanns Hartmann, der Schauspieldirektor Heinz W. Litten, der Kapellmeister Fritz Kitzinger, der Direktor der Städtischen Kunstsammlungen Friedrich Schreiber-Wiegand sowie 95 Schulleiter und Lehrkräfte. Viel von dem kulturellen Flair, das sich die Stadt in den zwanziger Jahren erworben hatte, ging verloren. Die Arbeiterschaft betraf das besonders schmerzlich durch das Verbot der Volksbühne. Für Dienstag, den 21. März 1933, hielt die sächsische NS-Regierung eine besondere Überraschung bereit. Sie erklärte den Tag kurzfristig zum Feiertag. Anlass war der Zusammentritt des am 5. März neu gewählten Reichstages. Dieser wurde als „Tag von Potsdam“ in der Potsdamer Garnisonskirche in pompösem Stil inszeniert. Die NS-Führung wollte sich durch die Veranstaltung im In- und Ausland unter Missbrauch preußischer Traditionen als deren würdiger Fortsetzer präsentieren. Dass ausgerechnet Sachsen und nicht Preußen an diesem Tag Arbeitsruhe verordnete, rief unter Chemnitzer Unternehmensleitungen Befremden hervor. Sie versuchten, die ausgefallene Arbeitszeit nacharbeiten zu lassen, beugten sich aber schließlich dem Druck und bezahlten den freien Tag.  Wie in anderen Reichsteilen inszenierte man auch in Chemnitz einen ersten Judenpogrom. Am 31. März entstand ein „Aktionskomitee für den Boykott gegen Juden“. Am 1. April, es war Sonnabend, der Haupteinkaufstag der Chemnitzer, zog vor jüdischen Geschäften SA auf. Die NSDAP drohte, Fotografen und Filmleute würden durch die Stadt fahren, um diejenigen aufzunehmen, die „beim Juden“ kaufen. Sie würden auf „Schandlisten“ in den Zeitungen veröffentlicht. Es gingen „nur“ einige Fensterscheiben jüdischer Geschäfte zu Bruch, dann wurde der Pogrom abgeblasen. Es war aber eine Aktion, die Schlimmes für die Zukunft fürchten ließ.

An kaum einem anderen Beispiel zeigt sich das Raffinement nationalsozialistischer Politik deutlicher als an der Umdeutung eines der wichtigsten Symbole der Arbeiterbewegung, des 1. Mai. Diesen erklärte man in einem Reichsgesetz vom 10. April zum „Feiertag der nationalen Arbeit“ . Damit wurde der internationale Demonstrations- und Kampftag der Arbeiterbewegung in einen Tag der Selbstdarstellung des nationalsozialistischen Regimes umfunktioniert. Spitzenvertreter der Gewerkschaften riefen ihre Mitglieder dazu auf, sich an dem so gewendeten Ereignis zu beteiligen. Damit lieferten sie das Wahrzeichen der Arbeiterschaft widerstandslos den Nationalsozialisten aus und desorientierten ihre Mitglieder vollends. Der 1. Mai 1933 fiel auf einen Montag. Die Feierlichkeiten wurden minutiös und mit einer gewaltigen „Propagandaschlacht“ vorbereitet. Nichts wurde dem Zufall überlassen. 

Am Sonntagvormittag, dem 30. April, hielt man in Chemnitz eine Generalprobe ab, um sich zu vergewissern, dass man die Arbeiter der Großbetriebe ausreichend im Griff hatte. Dazu wurde auf der Radrennbahn die Verleihung von Fahnen der Nationalsozialistischen Betriebsorganisation (NSBO) an 24 Chemnitzer Firmen inszeniert. 

Als einziges Chemnitzer Gewerkschaftsgebäude blieb das des Deutschnationalen Handlungsgehilfenverbandes an der Augustusburger Straße verschont. Diese Organisation zeichnete sich im Unterschied zu allen anderen Gewerkschaften durch scharfen Antisemitismus aus. Zunächst vor allem der DNVP nahe stehend, näherte sich der Verband mit deren Aufstieg immer stärker der NSDAP an. Er wurde in die DAF übernommen und fungierte dort zunächst als „alleiniger Träger des Angestelltengedankens“.  Allerdings währte dieses Arrangement nicht lange. Im Februar 1934 wurde auch der Handlungsgehilfenverband aufgelöst. Die meisten Gewerkschaftsbüros waren angemietet und über die Stadt verteilt. Im Wortsinn kann man also nicht von der Besetzung der Gewerkschaftshäuser, wie das üblich ist, sprechen, sondern der Gewerkschaftsbüros. Traditionell hatten der Ortsausschuss des ADGB, der Metallarbeiter- und der Textilarbeiterverband sowie einige andere Gewerkschaften ihren Sitz im Volkshaus an der Zwickauer Straße. Es gehörte dem gewerkschaftsnahen Verein Volkshaus für Chemnitz und Umgebung, ging nach der Besetzung in ein sogenanntes Sondervermögen ein und wurde 1938 endgültig enteignet.  

Das Mobiliar eigneten sich nationalsoziaistische Organisationen an, die sich zum Teil in den vorherigen Gewerkschaftsbüros einnisteten. Schriftliche Unterlagen verschwanden, wurden wahrscheinlich zielgerichtet vernichtet, so dass heute Quellen für eine Geschichte der Chemnitzer Gewerkschaften in den zwanziger/dreißiger Jahren kaum vorhanden sind.  Die Chemnitzer Polizeigefängnisse und SA-Stützpunkte waren schon vor der Inhaftierung der Gewerkschaftsführer überfüllt. Unter der Regie der SA wurden jetzt Konzentrationslager aufgebaut. Viele der in Chemnitz verhafteten Gewerkschafter, Kommunisten, Sozialdemokraten, Demokraten und Juden verschleppte die SA über verschiedene Zwischenstationen in das KZ Sachsenburg. So berichtete einer der Gefangenen, der Kommunist Bodo Ritscher, er sei zuerst im Polizeigefängnis in Chemnitz gefoltert, Anfang Mai ins KZ Colditz gebracht und im Sommer nach Sachsenburg verlegt worden. Der Aufbau des Konzentrationslagers begann mit 40 Häftlingen am 2. Mai, also am Tag der Besetzung der Gewerkschaftsbüros. Die Zahl stieg rasch an, bis auf 1.320 im August 1933.  Die NSDAP schuf in raschem Tempo eine neue Arbeitsmarkt- und Wirtschaftsordnung, die ihre Diktatur auf Dauer sichern sollte. Unmittelbar nach dem Verbot der Gewerkschaften entstand am 10. Mai die Deutsche Arbeitsfront (DAF).

Neben einer Reihe von Dienstleitungs-, Kommunal- und Reichsbetrieben nahmen fünf große Chemnitzer Industrieunternehmen teil: Hartmann, Schubert & Salzer, Wanderer, Haubold unddie Auto Union. Der Druck auf die Beschäftigten zur Teilnahme war enorm. Jeder stand nicht nur unter Beobachtung der Vorgesetzten, von denen manche vielleicht noch ein Auge zugedrückt hätten. Gefahr drohte auch von dem - zahlenmäßig noch geringen - Teil der Belegschaftsmitglieder, die inzwischen begeisterte Anhänger Hitlers waren. Verweigerung bedeutete, den Arbeitsplatz zu riskieren und das zu einer Zeit, in der es im Amtsbezirk noch weit über 50 000 Arbeitslose gab. Die Veranstaltung wurde als großer Erfolg gewertet.

Der Chemnitzer Arbeiter „ist zur deutschen Volksgemeinschaft zurückgekehrt und bekennt sich gläubig zur heiligen Fahne des deutschen Arbeiterführers und Volkskanzlers“ , hieß es in der Chemnitzer Tageszeitung. Eigenartig mutet im gleichen Blatt die verklausuliert formulierte Enttäuschung über die Zahl der Teilnehmer an. Der Verfasser meinte, viele hätten aus dienstlichen Gründen gefehlt. Allerdings war Sonntag und bis auf die üblichen Ausnahmen hatten alle arbeitsfrei. Man kann zumindest vermuten, dass ein nicht unerheblicher Teil der Belegschaften trotz allen Drucks nicht zur Fahnenweihe erschienen war. Am 1. Mai wurden die Chemnitzer um 6 Uhr durch das Läuten der Kirchenglocken geweckt. Diese erklangen noch einmal um 12 Uhr mittags. Superintendent Gerber und der Pressesprecher der Ephorie Chemnitz, Pfarrer Hoffmann,  hatten am 28. April einen Aufruf zu diesem Ehrenglockengeläut erlassen, was bislang am Feiertag der Arbeiter nicht üblich war. Diese Vertreter der evangelischen Kirche meinten, „mit den nationalen Kräften“ würden auch „die tiefsten religiösen Kräfte unseres Volkes wieder aufwachen“. Zudem regten sie besondere Gottesdienste an, nicht etwa als Gegenveranstaltung, sondern „als Auftakt und Einleitung“  des nationalsozialistisch gewendeten Feiertages. Diese Anbiederung an die Nationalsozialisten wirft ein eigenartiges Licht auf die Verantwortlichen. Sie konnten nicht im Einzelnen wissen, was in den Folterstätten der SA vor sich ging. Aber zu diesem Zeitpunkt war keinem Chemnitzer verborgen, auch keinem Superintendenten und keinem Pfarrer, welcher Terror in der Stadt herrschte, wusste jeder, der nicht den Kopf in den Sand steckte, dass Menschen gedemütigt, unrechtmäßig inhaftiert, gefoltert und ermordet wurden.  Am frühen Morgen des 1. Mai regnete es.  Die Stadt schwamm in einem Meer von Hakenkreuzen und anderen nationalsozialistischen Symbolen. Auf den öffentlichen Gebäuden wehten schon seit dem Vortag riesige Hakenkreuzfahnen. Die Simse und Fensterreihen  waren mit Girlanden und Lichterreihen überzogen. Besonders lobten die Zeitungen den Schmuck des Hauptbahnhofs, weil auf dessen Dach ein übergroßes, leuchtendes Hakenkreuz prangte. Um sieben Uhr zog man an den Fronten der großen Chemnitzer Unternehmen gewaltige Flaggen auf. Auch von den Fenstern vieler Privatwohnungen wehten Fahnen. Laut Zeitungsbericht wurde die kirchliche Jugend der Stadt schon mit dem Glockenläuten um 6 Uhr aktiv. Sie versammelte sich an vier verschiedenen Plätzen der Stadt, „um mit Choralgesang und Bibelwort dem Tag seinen weihevollen Auftakt zu geben“. Andere Chöre und Kapellen traten in den Morgenstunden an vielen Stellen der Stadt auf. Am Vormittag fand eine Kundgebung auf der Südkampfbahn statt, wo sich nach sicher übertriebenen Zeitungsberichten 80 000 bis 100 000  Menschen versammelt haben sollen. In das Stadion dröhnten aus Lautsprechern die Worte von Joseph Goebbels, der im Berliner Lustgarten sprach. Dann ertönte die Stimme Hindenburgs. Das Tageblatt berichtete: „Wie Worte aus einer anderen Welt sind es, die der Heros des deutschen Volkes markig und militärisch kurz an das deutsche Volk richtet. `Das deutsche Vaterland hurra!´ Und die Achtzig-, die Hunderttausend da draußen entblößen ihr Haupt, und zum Himmel steigt es auf, das Lied der Deutschen: Deutschland, Deutschland über alles.“  Das Hauptereignis des Tages inszenierte man am Nachmittag, einen „Festzug der Arbeit“, der vom Schlageterplatz in gewundener Linie durch das Stadtzentrum bis zur Südkampfbahn führte. Die Betriebsbelegschaften hatten sich vor den Unternehmen zu sammeln, um geschlossen zu ihren Stellplätzen zu marschieren, die sie um 13 Uhr einzunehmen hatten. Erst gegen 15 Uhr setzte sich der Zug in Bewegung. An der Spitze marschierte der SA-Sturm 2/104, der sich auf dem Sportplatz an der Yorkstraße angesiedelt und sich zahlreicher Verbrechen schuldig gemacht hatte. Es folgten andere SA-Einheiten, eine SS-Kapelle, Bereitschaften der Polizei und die Feuerwehr, danach die verschiedenen Behörden und Chemnitzer Firmen, alle mit Symbolen des Inhalts ihrer Arbeit geschmückt, Wanderer beispielsweise neben Fahnen und Girlanden mit vier Schreibmaschinen. Begleitet wurde das Ganze vom Luftschiff Zeppelin, das hakenkreuzgeschmückt am inzwischen blauen Himmel schwebte. Auch in Chemnitz gab es am 1. Mai Widerstand. Am häufigsten war er passiv, d. h., man trotzte der Gefahr, denunziert zu werden und ging trotz allen Drucks nicht hin. Sehr hoch geschätzt dürften etwa zwei Drittel der Chemnitzer Fabrikarbeiter an den nationalsozialistischen Maifeierlichkeiten teilgenommen haben. 

Das Fehlen eines Drittels störte die NSDAP-Strategen allerdings wenig. Die propagandistische Wirksamkeit war kaum beeinträchtigt, da der stumme Protest nicht öffentlich wurde. Anders war das bei öffentlichkeitswirksamen Aktionen, die man brutal verfolgte. Während viele Chemnitzer zu den Stellplätzen für die offizielle Demonstration unterwegs waren, versammelten sich in Seitenstraßen zur Leipziger Straße ca. 500 Arbeiter. Unter Rufen wie „Es lebe der 1. Mai, der Kampftag der internationalen Arbeiterklasse“ und „Nieder mit dem Faschismus!“ marschierten sie zum Leipziger Platz. Dann zerstreuten sie sich. Auf einem Schornstein in der Beyerstraße wehte am Morgen des 1. Mai eine rote Fahne. An der Schornsteinmauer prangte die Losung: „Die KPD lebt!“ . So weit zu sehen ist, wurden die Akteure beider Aktionen nicht gefasst. Anders erging es zwölf Arbeitern im Vorort Erfenschlag, die am Absägen einer frisch gepflanzten Hitlereiche beteiligt waren. Sie wurden von der Gendarmerie verhaftet und der Chemnitzer SA ausgeliefert. Diese folterte sie im Hansahaus. Einige wurden schließlich ins Krankenhaus gebracht.  Es gehörte inzwischen außergewöhnlicher Mut dazu, sich solchen Gegenveranstaltungen anzuschließen. Nur gar zu deutlich wurde aber auch eines der Kernprobleme im Kampf gegen die Diktatur: Wie war Öffentlichkeit zu erreichen, ohne sich selbst und seine Mitstreiter zu gefährden? Bei der Demonstration an der Leipziger Straße gelang das offensichtlich. Ort und Zeitpunkt waren gut gewählt, weil das Gebiet nicht von der offiziellen Demonstrationsroute berührt wurde,  wo sich zur gleichen Zeit laut Standortbefehl alle SA-Einheiten und große Teile der Polizei aufhielten. Das Hissen von Fahnen auf Fabrikschornsteinen war riskant, zugleich aber ein weithin sichtbares Symbol des Widerstandes. Es kam auch in den folgenden Jahren in Chemnitz vor.  

Für das Regime war der 1. Mai ein Erfolg. Die Ereignisse signalisierten: Man hatte die Arbeiterschaft zwar nicht für sich gewonnen, aber – und das war entscheidend – sie war gebändigt und es war endgültig klar, dass man große Massenaktionen nicht mehr zu fürchten brauchte. Das ermutigte die NSDAP, am 2. Mai den schon lange vorbereiteten entscheidenden Schlag gegen die Gewerkschaften zu führen. Die „Chemnitzer Tageszeitung“ meldete dazu: „Auf Befehl der Reichsleitung der NSBO sind am Dienstagvormittag Punkt 10 Uhr alle marxistischen Gewerkschaften durch SA unter Leitung eines Obmanns der NSBO schlagartig besetzt worden. An den Gebäuden wurden die Hakenkreuzfahnen gehisst und das NSBO-Zeichen angebracht. Die Besetzung, in deren Verlauf die Spitzen der marxistischen Organisationen und Gewerkschaften in Schutzhaft genommen wurden, ging bisher in allen Fällen reibungslos vonstatten.“ 

Auch in Chemnitz hatten während der Weltwirtschaftskrise viele Arbeiter die Gewerkschaften verlassen. Aber diese waren nach wie vor die mitgliederstärksten Organisationen. Schätzungsweise hatten sie im Gewerkschaftsbezirk, der über die Grenzen der Stadt hinausging, noch 38 000 Mitglieder. Die meisten gehörten dem Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbund an, ca. 4 000 den Angestelltengewerkschaften. Allerdings hatten die lang anhaltende Massenarbeitslosigkeit, der NS-Terror und die Preisgabe des 1. Mai durch die eigene Führung inzwischen auch den Chemnitzer Gewerkschaften jede Handlungsfähigkeit genommen. So konnte die SA am 2. Mai widerstandslos 22 ihrer Büros besetzen.  Sie eignete sich zwar das Erbe der Gewerkschaften an, war aber keine solche. Von allen Berufstätigen wurde im Sinne einer imaginären „Volksgemeinschaft“ verlangt, Mitglied der DAF zu sein, also von Unternehmern genauso wie von Arbeitern und Angestellten. Im Gerangel der nationalsozialistischen Organisation war die DAF keineswegs die einflussreichste. Sie versuchte, sich als Sachwalter von Arbeiterinteressen zu profilieren. Das Ende der Gewerkschaften bedeutete auch das Ende der Tarifautonomie. Für den Interessenausgleich zwischen Arbeitern und Unternehmern hinsichtlich Lohn und Arbeitszeit sollten jetzt „Treuhänder der Arbeit“ sorgen, die per Gesetz am 19. Mai installiert wurden.  Diese unterstanden  der Reichsregierung. Für Chemnitz war der sächsische Treuhänder zuständig. Bei den Treuhändern wurden so genannte „Ehrengerichte“ installiert, die keinerlei juristisch relevante Urteile zu fällen hatten. Sie sollten tätig werden, wenn die „Ehre der Arbeit“ verletzt wurde. Mit dem „Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit“  vom 20. Januar 1934 erfolgte schließlich eine umfassende Regelung der nationalsozialistischen Arbeitsordnung.
Im Sommer 1933 konnte sich die NSDAP ihrer Macht recht sicher sein. Und doch hob der Polizeibericht vom Juli mehrmals hervor, in Chemnitz sei „keine Begeisterung festzustellen“, vielmehr herrsche „eine große Unruhe und Unsicherheit in der Stadt“. Die Stimmung der Bevölkerung sei „sehr misslich und äußerst gespannt“, besonders auf dem Sonnenberg, einem ausgesprochenen Arbeiterviertel.  Das alles war unterschwellig sicher vorhanden. Aber eine öffentliche Meinungsbildung war nicht mehr möglich. Angst beherrschte die Arbeiterviertel und die Betriebe. Selbst der letzte größere Versuch vom 1. Mai, an der Leipziger Straße eine Gegendemonstration zu veranstalten, konnte keine Wirkung entfalten. Was waren die fünfhundert Mutigen gegen Tausende begeisterte NS-Aktivisten, willige Mitläufer und dem Druck Nachgebende, die sich gleichzeitig der offiziellen Demonstration anschlossen.

 

Anfang und Ende

Chemnitz 1933 und Chemnitz 1945