Folgen Sie uns:
Am 15. Juli 1933 entstand im Chemnitzer Polizeipräsidium ein „Gesamtbericht über Vorfälle in Chemnitz für die Zeit von April bis Mitte Juni 1933“. Dieser listete die 31 schwersten Fälle von brutaler Folterung und von Mord durch Chemnitzer SA- Einheiten auf. Es seien al- lerdings weit mehr Personen misshandelt worden. Diese jedoch würden ausnahmslos schweigen, „weil ihnen durch- weg gedroht worden ist, dass für jeden eine Kugel bestimmt sei, der über die erlittenen Misshandlungen Angaben mache.“ In die so genannten Stabswachen der SA, die sich im Hansahaus in der Königs- traße, dem Sitz der NSDAP, und in Gebäuden von Sport- plätzen einquartiert hatten, wurden Chemnitzer Einwoh- ner verschleppt, die sich aus irgendeinem Grund den Zorn der neuen Herren zugezogen hatten. Meist handelte es sich um Arbeiter, die den Ge- werkschaften sowie der SPD oder KPD angehörten. Opfer waren aber auch Juden und Tschechen. Zudem lässt der Polizeibericht keinen Zwei- fel daran, dass oft persön- liche Racheakte eine Rolle spielten Der Verfasser be- schreibt die Vorgänge in den SA-Wachen ausführlich: „Die verhafteten Personen werden dort zunächst einem Verhör unterzogen. Sobald der Ver- haftete nicht das sagt, was der vernehmende SA-Mann wissen will, wird er von einer Anzahl SA-Männern mit Gum- miknüppeln und sonstigen Gegenständen geschlagen. Diese Tortur wiederholt sich im Verlaufe der Vernehmung mehrere Male. Es sind Fälle zu verzeichnen, wo die Opfer angebunden, nackt ausgezo- gen und bis zur Bewusstlosig- keit geprügelt wurden. U. a. hat man sie mit glühenden Ei- sen in das Gesäß gestochen und die Nacht über in eine Art Kiste gesteckt, wo sie bis zum Morgen, wie eine Schlange zusammengerollt, ausharren mussten. In einzelnen Fällen hat man ihnen Büschel von Haaren abgeschnitten, die sie in den Mund stecken mus- sten. Die Misshandlungen sind teils derartig gewesen, dass fast kein Fleckchen hei- ler Haut am ganzen Körper mehr zu sehen war. Auch soll es vorgekommen sein, dass Pfeffer in die Wunden gestreut und hierauf die Wun- den mit Essig wieder ausge- waschen worden sind.“ Sie- ben der 31 Personen kamen zu Tode. Drei davon erlagen ihren Verletzungen durch die Folter. Vier wurden vorsätz- lich ermordet.
Den jüdischen Rechtsanwalt Arthur Weiner holten am 11. April SA-Leute aus seiner Wohnung. Er wur- de erschossen. Später fand man seine Leiche in Wie- derau. Die drei Arbeiter Max Haufe, Alfred Schubert und Georg Enderlein wurden am 8. Juni von SA-Leuten ver- schleppt und im Turnerheim an der Yorkstraße gefoltert. Ihre Leichen entdeckte man nach zwei Wochen in einem Teich bei Schneeberg. Die in dem Polizeibericht er- wähnten Ereignisse waren nur ein Teil der mörderischen Lawine, die nach dem 30. Januar 1933, dem Tag der Etablierung der national- sozialistisch /konservativen Regierung mit Hitler als Reichskanzler, durch Chem- nitz rollte. Am 18. Februar wurde der kommunistische Funktionär Anton Erhardt auf offener Straße erstochen, ei- nen Tag später das Reichs- bannermitglied Paul Franke. Nach dem Reichstagsbrand am 27. Februar kam es zu einer regelrechten Hetzjagd auf Funktionäre der SPD und der KPD. In dieser Atmo- sphäre fanden am 5. März Reichstagswahlen statt. Die beiden Parteien konnten kei- nen geordneten Wahlkampf führen. Viele ihrer Funktio- näre waren inhaftiert oder in die Illegalität getrieben, ihre Zeitungen verboten. Desto bemerkenswerter sind die Wahlergebnisse. Die demo- kratischen bürgerlichen Par- teien, die Deutsche Demo- kratische Partei (seit 1930 Staatspartei) und die Deut- sche Volkspartei, waren mar- ginalisiert. Die Deutschnatio- nale Volkspartei paktierte auf Reichsebene mit Hitler. Die Zentrumspartei erzielte im Reich immerhin elf Prozent der Stimmen. In Chemnitz fehlte ihr aber seit jeher eine solche Stärke, da die katho- lische Bevölkerungsbasis sehr schmal war. Aber auch hier bewahrten die Anhänger des Zentrums ihre Haltung. Die Partei legte sogar et- was zu, lag aber immer noch unter einem Prozent. So blieben in der Stadt nur die beiden Arbeiterparteien, die der NSDAP bei dieser Terror- wahl Paroli boten. Die SPD erzielte 57.148 Stimmen, die KPD 48.430. Das waren zu- sammen etwas mehr als die 103.498 der NSDAP. Freilich blieb dieser Wahlerfolg Ma- kulatur. Er sagt aber immer- hin aus, dass in Chemnitz die Masse der Arbeiter nicht be- reit war, der Hitlerpartei ihre Stimme zu geben, sondern ihrer Gesinnung treu blieb. Die Zeiten allerdings, als wie beim Kapp-Putsch im März 1920 Chemnitzer Arbeiter geschlossen dagegen auf- standen und die Weimarer Republik verteidigten, waren vorbei. Weltwirtschaftskrise, Massenarbeitslosigkeit und die damit einhergehende bit- tere Not lähmten die Arbei- terschaft. Ob sie in großem Maßstab hätte mobilisiert werden können, wenn sich ihre Parteien nicht in unend- lichen Streitigkeiten unter- einander erschöpft hätten, mag dahingestellt bleiben, ist aber eher unwahrscheinlich. Widerstand aus dem bürger- lichen Lager war gleich gar nicht zu verspüren. So nahm die Transformation der poli- tischen Verhältnisse in eine faschistische Diktatur ihren verhängnisvollen Lauf. In den Tagen nach der Wahl besetz- te die SA wichtige Gebäude in der Stadt, die Kreis- und die Amtshauptmannschaft, das Amts- und das Landge- richt, das Rathaus, das Ar- beitsamt und die Stadtbiblio- thek. Bei der Besetzung des Verlages der sozialdemokra- tischen „Volksstimme“ am 9 März durch einen SA-Trupp wurde der Stadtverordnete Georg Landgraf erschossen. Es begannen Entlassungs- aktionen gegen Persönlich- keiten, die „marxistischer“ Einstellung verdächtig wa- ren. Betroffen waren Kom- munisten, Sozialdemokraten und Demokraten. Viele wur- den durch SA oder Polizei verhaftet. Für Menschen, bei denen Judentum und An- gehörigkeit zu einer Arbei- terpartei zusammenfielen, ersannen die SA-Schergen besondere Demütigungen. So wurde der Arzt und sozial- demokratische Stadtverord- nete Kurt Glaser mit anderen zusammen wie Vieh durch die Stadt getrieben. An eine Bretterwand musste er in großen Buchstaben schrei ben „Jüdischer Hetzer Dr. med. Glaser“. Ähnlich erging es Personen, an denen SA- Angehörige ihren persön- lichen Rachedurst stillten. Der sozialdemokratische R e i c h s t a g s a b g e o r d n e t e Bernhard Kuhnt war 1918/19 führend an der Revolution in Wilhelmshaven beteiligt und kurzzeitig Präsident des Frei- staates Oldenburg gewesen. Von dort her rührte der Hass, den ihm Angehörige der SA- Einheit „Marinesturm Chem- nitz“ entgegenbrachten. Sie schleppten Kuhnt am 9. März auf einem Schinderkarren durch die Stadt, fotografie- rten dessen Demütigung und brachten vier Fotos als Post- karten in Umlauf.
Zum 10. März berief die NSDAP aus eigener Machtvollkommenheit eine Stadtverordnetenversammlung ein. Das war irregulär und ein eklatanter Rechtsbruch. Als Legitimation berief sich die Partei auf einen imaginären „Volkswillen“. Die Veranstaltung artete zur Parteiversammlung der NSDAP aus, denn nur ihre 20 Abgeordneten nahmen daran teil. Die 31 Vertreter der beiden Arbeiterparteien waren zum Teil inhaftiert.
Die übrigen konnten sich nur bei Gefahr für Leib und Leben auf die Straße wagen. Aber auch die neun bürgerlichen Stadtverordneten nahmen an der Farce nicht teil, obwohl man fest mit der DNVP gerechnet hatte, deren Vertreter ja im Reich mit Hitler in einer Regierung saßen. Die Chemnitzer DNVP-Fraktion lehnte die Teilnahme ab, weil sie die Befugnis der Einladenden in Zweifel zog.In der Sitzung des auf ein Drittel begrenzten Stadtparlamentes herrschte eine siegestrunkene, hasserfüllte Atmosphäre. Der NSDAP-Kreisleiter Mutz schrie in den Saal: „Wo ist denn die Kommune, wo ist die SPD, wo sind die Antifaschisten. Sie sitzen zu Hause und zählen an den Fingern ab, wann die Stunde kommt, da auch sie in die überfüllten Gefängnisse hineingepfercht werden.“ Dann beschloss man, den kommunistischen und sozialdemokratischen Stadträten die Aufwandsentschädigung und die Straßenbahnfreikarten zu streichen sowie kein amtliches Material mehr zuzustellen. Man benannte Straßen um, u. a. den Karl-Marx-Platz in Schlageterplatz, den Theaterplatz in Hitlerplatz und die Bebelstraße in Wettiner Straße. Hitler und Hindenburg wurden zu Ehrenbürgern ernannt. Jüdische und kommunistische Lehrer sollten entlassen und die Volkshochschule geschlossen werden. Alle diese Entscheidungen waren rechtlich ungültig. Aber wie im Reichsmaßstab war auch in der Kommune Rechtsbruch ein wesentliches Element zur Errichtung der NS-Diktatur. Während der Terror wütete, verabschiedete das Regime in rascher Folge Gesetze. Sie dienten der Stabilisierung seiner Macht. Die Gesetze erweckten den Anschein der Legalität, sprachen aber der gültigen Reichsverfassung Hohn. Sächsische und Chemnitzer NSDAP-Instanzen eilten dabei immer wieder denen im Reich voraus. Beispielsweise erließ der so genannte Reichskommissar für Sachsen schon am 11. März eine Verordnung, die kommunistischen Lehrern die Ausübung ihres Dienstes untersagte.
Dr. Karl-Heinz-Schaller
Quelle: Der Beitrag wurde dem Buch „Fabrikarbeit in der NS-Zeit, Arbeiter und Zwangsarbeiter in Chemnitz 1933-1945. Verlag für Regionalgeschichte Bielefeld, 2011. entnommen.
Die Beiträge sind aus dem Buch von Dr. Karlheinz Schaller „Fabrikarbeit in der NS-Zeit, Arbeiter und Zwangsarbeiter in Chemnitz 1933-1945. Verlag für Regionalgeschichte Bielefeld, 2011.
Dieses Buch kann in der Chemnitzer Bibliothek der Rosa-Luxemburg-Stiftung entliehen werden.
1. Institut für Zeitgeschichte München-Berlin, Archiv, Nr. F 92.
Leider ist es unmöglich, ein Gesamtbild der Ereignisse zu geben. Der Bericht erwähnt nicht jene, die durch die Polizei widerrechtlich in Schutzhaft genommen und gefoltert wurden. Der Verfasser bezweckte, die Aktivitäten der SA einzuschränken und die Sicherung des „neuen Staates“ alleine der Polizei zu übertragen. Andere Chemnitzer Polizeiakten aus dieser Zeit sind nicht erhalten.
2. Vgl. Karl-Marx-Stadt. Geschichte der Stadt in Wort und Bild, Berlin 1988, S. 173.
3. Vgl. Ernst Barth, Wahlergebnisse aus den Jahren 1924 bis 1933 als Spiegelbild der politischen Haltung des damaligen Chemnitzer Bürgertums. Beiträge zur Heimatgeschichte von Karl-Marx-Stadt, Heft 17, Karl-Marx-Stadt 1969, S. 36; vgl. auch Dirk Hänisch, Das Wahl- und Abstimmungsverhalten in Chemnitz 1933 und 1934, in: Chemnitz in der NS-Zeit. Aus der Stadtgeschichte Heft 10, Leipzig 2008, S. 7-36.
4. Vgl. Die SPD im Chemnitzer Rathaus 1897-1997, Hannover 1997, S. 107.
5. Vgl. Michael Schneider, Unterm Hakenkreuz. Arbeiter und Arbeiterbewegung 1933 bis 1939, Bonn 1999, S. 59.
6. Zitiert nach Die SPD im Chemnitzer Rathaus, S. 105., RGBl. 1933 I, S. 175 – 177.
7. Vgl. Karl-Marx-Stadt, S. 175.
8. Vgl. Wanderer, Nr. 4.
9. RGBl. 1933 I, S. 191.
10. Chemnitzer Tageszeitung, 2. Mai 1933.
11. 1. Beilage zum Chemnitzer Tageblatt und Anzeiger, 28. April 1933.
In der Chemnitzer evangelisch – lutherischen Kirche vollzog sich Mitte der dreißiger Jahre ein Wandel hin zur Ablehnung der NS-Diktatur. (Vgl. Benjamin Krohn, Illusionen und Spaltungen – Die evangelisch – lutherische Kirche in Chemnitz während des Nationalsozialismus, in: Chemnitz in der NS-Zeit. Aus der Stadtgeschichte Heft 10, Leipzig 2008, S. 123-144.). Auch der Sopade - Bericht vom August 1937 macht auf diesen Wandel aufmerksam. Dort hieß es, die Chemnitzer Pfarrer würden sich „jetzt mit mannhafter Tapferkeit diesen Totalitätsbestrebungen des Dritten Reiches entgegen werfen.“ (Deutschland - Berichte der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (Sopade), Salzhausen u. Frankfurt/M 1980, 1937, S. 1147, im Folgenden: Sopade - Berichte Jahr, Seite).
12. Die Fakten und Zitate zum 1. Mai sind, wenn nicht anders erwähnt, der Chemnitzer Tageszeitung und dem Chemnitzer Tageblatt vom 2. Mai 1933 entnommen.
13. Die Gegendemonstration und die Fahnenhissung nach Chronik des antifaschistischen Widerstandkampfes im Bezirk Chemnitz-Erzgebirge-Vogtland 1933-1945, Karl-Marx-Stadt 1969, S. 53/54.
14. Vgl. Institut für Zeitgeschichte München-Berlin, Archiv, Nr. F 92.
15. Vgl. STAC, 31602 BL der SED Karl-Marx-Stadt, Nr. V/5/332.
16. Chemnitzer Tageszeitung, 2. Mai 1933.
17. Vgl. Stadtarchiv Chemnitz, Rat der Stadt 1928 – 1945, Nr. 1763, Bl. 14.
18. Zwischen Antisemitismus und Interessenvertretung. Ein Bestandsverzeichnis von Katja Nerger und Rüdiger Zimmermann, Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn 2006, S.14.
19. Vgl. Deutscher Reichsanzeiger und Preußischer Staatsanzeiger, 25. Juni 1938.
20. Die Informationen zum KZ Sachsenburg nach: Sachsenburg. Dokumente und Erinnerungen, Chemnitz 1994.
21. Vgl. RGBl. 1933 I, S. 285.
22. RGBl. 1934, S. 45-56.
23. Institut für Zeitgeschichte München-Berlin, Archiv, Nr. F 92.
NS-Zwangsarbeit und Kriegswirtschaft 1939–1945
Der vorliegende Band erschließt den aktuellen Forschungsstand und neue Quellen zum Thema. Er bietet einen umfassenden Einblick mit dem Schwerpunkt auf Zwangsarbeit und Kriegswirtschaft in Sachsen.
NS-Zwangsarbeit und Kriegswirtschaft 1939-1945. Ausländereinsatz im Deutschen Reich und in Sachsen. Repatriierung - Nachkriegsprozesse - Entschädigung
Klaus-Dieter Müller/Dietmar Wendler
unter Mitarbeit von Rainer Ritscher,
hrsg. von der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung, Dresden 2021
Der Einsatz von ausländischen Arbeitskräften, seien es Zivilisten oder Kriegsgefangene, war spätestens seit 1942 zu einem Massenphänomen in der deutschen Kriegsgesellschaft geworden. Zum Höhepunkt der Zwangsarbeit im Herbst 1944 waren ungefähr acht Millionen Ausländer – Zivilisten, Kriegsgefangene und KZ-Häftlinge – in allen Teilen des Deutschen Reiches tätig.