Es hat lange gedauert, bis ich über diese Zeit sprechen konnte

Ursula Wünsch – geboren 1927

Ich bin in der Schüffnerstraße in Chemnitz aufgewachsen und habe meine Schulzeit im Jahre 1933 in der Pestalozzischule begonnen. Dann, nach dem ersten Jahr, habe ich die Schule gewechselt und besuchte bis zur Klasse 4 die Humboldtschule. In der Schüffnerstraße wohnten auch viele meiner Schulfreundinnen, der große Hof am Haus war für uns alle ein schöner Spielplatz. An diese Zeit erinnere ich mich gern. Es gab den „ Jungmädchenbund“, wo oft Veranstaltungen für uns Kinder stattfanden. Anfangs war das alles kostenlos, später mußte ein Mitgliedsbeitrag, ich glaube es waren 20 Pfennige im Monat, bezahlt werden. Einige Zeit war ich Kassiererin und mußte zu den Eltern gehen, um den Beitrag einzuholen. Manche Eltern waren nicht in der Lage, 20 Pfennige aufzubringen. Die Kinder blieben dann den Veranstaltungen fern. Im Jahre 1936 sind wir in die Jahnstraße gezogen, auch uns verwandte Familien wohnten mit in diesem großen Mietshaus. Mein Vater musste nicht in den Krieg ziehen, aber meine beiden Cousins, mit denen ich aufgewachsen bin, sind sofort nach dem Ende der Schulzeit „eingezogen“ worden. Die Sorge, dass ihnen etwas passieren könnte, war in der Familie immer gegenwärtig. Mit Beginn der 5. Klasse besuchte ich die Höhere Mädchenschule „Barbara Uttmann“, begann aber dann 1942 eine dreijährige kaufmännische Lehre. In dieser Zeit haben wir noch wenig vom Krieg gemerkt. Erinnern kann ich mich an einen großen Fackelzug Uniformierter durch Chemnitz, wir standen am Straßenrand und haben zugeschaut. Aber die Situation änderte sich bald, die harten Kriegsjahre begannen.
Es wurde gefragt, „Wollt ihr den totalen Krieg?“ Ehe einer antworten konnte, wurde schon „ja“ gebrüllt.
Vergnügungen durften nicht mehr sein, im Kino wurden noch selten Filme gezeigt. Es wurde dunkel und streng in Deutschland. Meine Schwester, meine Freundinnen, ich, wir waren junge Mädchen, eigentlich sollte das Leben für uns jetzt erst losgehen. Die Menschen fühlten, dass der Krieg verloren war, an vielen Fronten wurde nun gekämpft, das konnte nicht gut gehen.
Der Krieg kam auch nach Chemnitz. Bis jetzt war die Stadt von Fliegerangriffen verschont geblieben. Ich hatte nach dem Ende der Schulzeit eine kaufmännische Lehre begonnen, der Unterricht fand in der Handelsschule an der Markthalle statt. Die Abschlussprüfung war von der Handelskammer auf das Frühjahr 1945 vorverlegt worden.
Wir waren mitten in der Prüfung, da heulten die Sirenen, Fliegeralarm. Wir mussten alles stehen und liegen lassen und in den Luftschutzkeller unterhalb der Kaßbergauffahrt gehen.Dort bekam ich regelrechte Zustände, die vielen Menschen, wenn da etwas passieren würde, wären wir alle verloren.Als der Alarm vorbei war, sahen wir, dass eine Bombe, wahrscheinlich ein sogenannter Notabwurf, direkt die Kaßbergauffahrt und dort eine Wasserleitung getroffen hatte. Eine Riesenfontäne stieg in den Himmel, fast wie auf dem Schloßteich.Wir holten in der Handelsschule unsere Sachen, die Prüfung war damit beendet.
Noch zweimal musste ich in den Luftschutzkeller unter der Kaßbergauffahrt, weil mich Bombenalarm in der Stadt überraschte. Da durfte sich kein Mensch mehr auf der Straße bewegen. Das furchtbare Angstgefühl erlebte ich auch diesmal wieder.
Die Sirenen heulten in Chemnitz immer öfter, was bedeutete, dass sich Bomber der Stadt nähern. Meine Freundin und ich hatten einen Kurs zur Ausbildung als Rot-Kreuz-Schwester besucht. Uns wurde mitgeteilt, dass wir im Luxorpalast, aber vorwiegend zum Sanitätsdienst auf dem Bahnhof eingesetzt werden, bis 22 Uhr, wir waren gerade 16 Jahre alt. In unserer Schwesternkleidung mussten wir den Dienst auf dem Bahnhof antreten, um Soldaten zu helfen, sie mit Getränken und Verpflegung versorgen. Die Lazarett- und Urlauberzüge wurden immer sehr kurzfristig angesagt, was für uns bedeutete, die schweren Getränke- und Verpflegungskübel schnell durch den Bahnhof, treppab und dann wieder treppauf auf den Bahnsteig zu bringen. Das war eine schwere Arbeit.
Später wurde ich bei Fliegeralarm eingesetzt. Da wir in der Jahnstraße wohnten, war der Einsatzort die Rudolfschule.In der Knabenschule war ein Hilfslazarett eingerichtet worden, mit kranken, nicht bettlägerischen Soldaten, es waren meist Holländer.
Eines abends oder nachts, das weiß ich nicht mehr so genau, im Februar 1945, es war Fliegeralarm angekündigt. Wir saßen alle im Keller der Schule, da bebte für kurze Zeit der Fußboden unter unseren Füssen und wir hörten einen lauten Knall. Ein Soldat sagte, der Einschlag war ganz in unserer Nähe. Ein Volltreffer hatte den Mädchenteil der Rudolfschule getroffen und war bis in den Keller vorgedrungen.Dort hatte sich ein Rettungstrupp aufgehalten. Alle sind umgekommen, was wir erst Tage später erfahren haben. Es war einfach furchtbar.
Auch am 5. März 1945 saßen wir in diesem Keller. Der Lazarettarzt hat sich sonst bei Alarm immer auf dem Dach der Schule aufgehalten. An diesem Tag kam er in den Keller und hat laut und energisch alle Brillenträger aufgefordert, die Brille abzunehmen. Da begannen auch schon die Detonationen. Der Splitterschutz wurde von den Kellerfenstern weggerissen, wodurch wir sehen konnten, dass die Rudolfstraße ein brennender Fluss war. Wir saßen, den Kopf in den Schoß gepresst, und ich hatte furchtbare angst.
Ein Soldat hatte die Brille nicht abgenommen. Durch den Luftdruck war sie zersprungen und die Glassplitter waren in die Augen eingedrungen. Beim Licht einer Kerze, der Strom war weg, versuchte der Arzt die Splitter aus den Augen zu entfernen.
Dieser Bombenangriff hatte Furchtbares hinterlassen. Die Leuchtkörper, die nachts vor den Bombenangriffen gesetzt wurden, um die Bombenziele zu markieren, waren abgetrieben

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